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Im Wortwechsel mit MIDDLE KIDS

Im Wortwechsel mit MIDDLE KIDS

Zum Release ihres zweiten Albums „Today We’re The Greatest“ hat sich Anna mit Middle Kids-Frontfrau Hannah Joy über volle Terminkalender, Schwangerschaft und das Leben im Hier & Jetzt unterhalten.

Ich muss sagen, ich bin ein langjähriger Fan eurer Musik und freue mich sehr auf die neue Middle Kids-Platte. Wann habt ihr daran gearbeitet?

Hannah Joy: Wir haben es gegen Ende des Jahres 2019 geschrieben. Es sind ein paar Tracks drauf, die ich schon vor vielen Jahren geschrieben habe, mit denen ich aber nie etwas unternommen habe. Und ich dachte: „Oh, ich liebe diese Songs“, aber ich konnte einfach nie einen Platz für sie finden. Oder einen Weg zu finden, sie vollständig zu verwirklichen.

Ich habe „Questions“ vor ein paar Jahren geschrieben, vor der ersten Platte, aber es hat nicht wirklich gepasst. Dann habe ich es vergessen. Später haben Tim und ich es wiedergefunden, und er meinte, dass wir es versuchen sollten. Das Gleiche ist auch mit einem Song namens „Summer Hill“ passiert. Aber ja, das meiste ist Ende 2019 entstanden.

Ich habe mir nämlich euren Terminkalender angesehen und gedacht: „Wann hatten sie denn Zeit, das aufzunehmen?“ Ihr wart auf Tour, du warst schwanger, dann kam die Pandemie.

Hannah: Ich bin so dankbar, dass wir es damals gemacht haben. Und wir hätten uns damit fast umgebracht. Wir kamen nämlich gerade von einer Tournee zurück. Und wir hatten einen großen Tourneesprint in Australien, als ich im siebten Monat schwanger war.

Ich wusste einfach: Wenn wir die Platte nicht rausbringen, weiß ich nicht, wann wir es tun werden, wegen des Babys. Aber dann tatsächlich aufgrund der Pandemie. Also: Danke, Baby, dass du mich gezwungen hast, eine Platte zu schreiben.

Ich glaube, euer Plan hat funktioniert, ohne dass ihr wusstet, dass ihr einen Plan habt. Ich habe gelesen, dass du gesagt hast, dass du Musik machen willst, die den Hörer liebt – ich finde, das ist eine so schöne Art, Musik zu sehen und anzugehen. Ich frage mich, was dich dazu gebracht hat, so zu denken? Und wie du das in eurer Musik verarbeitet hast?

Hannah: Ich denke, das, was mich dazu gebracht hat, diese Art von Songwriterin sein zu wollen, ist, dass ich über die tiefgreifende Wirkung nachgedacht habe, die Musik auf mich hatte, besonders als Teenager, als ich Musik fand und das Gefühl hatte, dass sie mich sah und mich ansah und sagte: „Ich sehe dich und ich sehe deine Sorgen“.

Auf der anderen Seite wollte ich mich herausfordern und anspornen, größer zu denken oder weiterzugehen. Ich habe das Gefühl, dass Musik die Fähigkeit hat, dich zu ermutigen, etwas zu tun. Nicht nur durch die Texte, sondern auch auf diese mysteriöse Art und Weise, die dich berührt und zu dir spricht. Die Musik ist eine der mächtigsten Kräfte in meinem Leben, die mich ermächtigt und mir hilft, weil ich weiß, was für ein unglaubliches Potenzial in ihr steckt.

Ich weiß nicht unbedingt, wie ich das in den Song einfließen lasse, aber ich habe das Gefühl, dass die Art und Weise, wie man generell im Leben lebt, die Kreativität und den Output komplett beeinflusst. Je mehr ich also danach strebe, auf eine bestimmte Art zu leben, desto mehr kommt das in der Musik zum Ausdruck.Wenn ich also danach strebe, so zu leben, dass ich die Menschen liebe, oder was auch immer du wählst, es könnte alles sein, kommt das in dem Song heraus.

Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht anders machen können, vor allem, weil ich schwanger war, als ich einen Großteil des Albums schrieb.

Ich finde, das Album ist sehr auf den Punkt persönlich und in gewisser Weise ehrlich, ohne sich hinter einer Wand von Metaphern und einer geheimnisvollen Art und Weise zu verstecken, um über Gefühle sprechen zu können. Hast du diese Veränderung bemerkt? War es beabsichtigt zu sagen „Okay, lass uns das Album mehr in diese Richtung machen“?

Hannah: Vor allem textlich ging es bei uns immer viel mehr darum, ein Bild zu malen oder Geschichten zu erzählen, und ich glaube, das mache ich immer noch. Aber ich glaube, es ist viel kopflastiger geworden, und selbst wenn du sagst, metaphorisch oder sogar konzeptionell, dann denke ich, dass es das definitiv immer noch gibt, aber ich habe das Gefühl, ich wollte in der Musik ehrlicher mit mir selbst sein. Denn ich denke, wenn man sich weiterentwickeln und tiefer gehen will, auch musikalisch, dann muss man immer weitergehen, oder man bleibt an einem bestimmten Punkt stehen. Für mich habe ich herausgefunden, dass ich zu neuen Orten aufbrechen muss, um weiter zu wachsen. Und ich denke, das Songwriting ist ein natürlicher Folgeeffekt davon.

Wahrscheinlich hätte ich es gar nicht anders machen können, vor allem, weil ich schwanger war, als ich einen Großteil des Albums schrieb. Es war so neu für mich. Ich wusste nicht so recht, was ich tun sollte. Als ich schwanger war, dachte ich: Oh Scheiße, ich muss wirklich darüber nachdenken, was mir wichtig ist, denn ich ziehe ja ein Kind auf und muss so etwas wie eine Ideologie haben, die ich an meinen Sohn weitergeben kann.

Und dann war ich generell ziemlich hormonell und emotional.Ich war an einem sehr guten Punkt. Ich denke, einfach an der Schwelle zur Mutterschaft zu stehen und zu wissen, dass sich mein Leben verändern wird, und schon allein die Erfahrung, dass ein Leben in uns wächst, ist so verdammt erstaunlich.

Das ist lustig, denn das ist genau meine nächste Frage, ob du denkst, dass die Mutterschaft deine Art, an deine Musik und deine Kunst heranzugehen, verändert oder beeinflusst hat. Denn ich höre immer wieder, wie Frauen darüber reden, schwanger zu werden und wie das ihr Leben verändert hat. Ich kann mir das nicht vorstellen, weil ich selber keine Kinder habe. Deshalb finde ich es sehr interessant, es in Bezug auf das Musikmachen zu sehen.

Hannah: Das ist wirklich total verrückt! Man stellt sich das ewig vor, aber wenn man es wirklich erlebt, ist es ganz anders. Dir wird plötzich bewusst, dass du Mutter wirst. Und wenn du es bist, ist es genau die Sache, die dich irgendwie knackt.

So, dass es im Grunde deine ganze verdammte Zeit in Anspruch nimmt. In dieser Zeit einen Song zu schreiben ist eigentlich völlig unmöglich. Das ist auch irgendwie lustig, weil ich das Gefühl habe, dass sich meine Vorstellungskraft und meine Lebenserfahrung jetzt, wo ich Mutter bin, total geöffnet haben. Aber länger als fünf Minuten habe ich dafür nicht.

Mein Leben hat sich um 180 Grad gedreht und bin so gespannt, welch großen Einfluss es auf mein Schreiben für die nächste Platte haben wird. Nur wann ich dazu komme, ist die Frage.

Das klingt für mich nach dem kompletten Gegenteil einer Schreibblockade, wenn du Zeit hast, aber dir nichts einfallen will. Jetzt hast du tausend Ideen, aber keine Zeit.

Hannah: Genau das ist es! So habe ich noch nicht darüber nachgedacht. Und es ist so wahr. Zum Beispiel nehme ich immer Sprachmemos auf, weil ich meinem Sohn etwas vorsinge, du weißt schon, wie man eben so doofe kleine Lieder singt. Oder auch irgendwo anders, wenn ich gerade dazu komme. Damit nichts verloren geht. Ich habe also diese verrückte Liste von Sprachnotizen, auf die ich irgendwann zurückgreifen kann.

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Ich bin schon so gespannt, was dabei rumkommt! Und ich muss sagen, Bilder von dir auf der Bühne zu sehen, sichtbar schwanger, ist eines der coolsten Dinge überhaupt. Und ich denke, das sollte es nicht sein, es sollte ganz normal sein, aber eine Musikerin auf der Bühne zu sehen, eine Frau, die schwanger ist, war so neu für mich. Ich meine, hier in Deutschland ist es schon schwierig, jemanden auf der Festivalbühne zu finden, der kein weißer Kerl ist. Also das ist total revolutionär. Wie hast du diese Zeit erlebt?

Hannah: Ich habe mich cool gefühlt. Und ich bin wirklich froh, dass ich es gemacht habe. Aber es war ziemlich hart. Schon allein körperlich. Am Ende des achten Schwangerschaftsmonats, wenn das Baby schon voll ausgewachsen ist, liegt es direkt auf der Lunge. Also war schon allein das Singen sehr anstrengend. Und sich zu bewegen war wild, ich habe immer wieder versucht, High Kicks auf der Bühne zu machen, weil ich das früher immer gemacht habe. Ich versuchte also, immer wieder High Kicks zu machen, und Tim sah mich an und sagte: „Mach das bitte nicht“. Ich habe es geliebt. Und es hat mir wirklich alles abverlangt.

Aber es ist wirklich lustig, wie ich seit der Schwangerschaft wieder spiele. Ich denke: Das ist die einfachste Sache der Welt. Ich weiß nicht, warum ich so eine große Sache daraus gemacht habe, jetzt, wo ich weiß, wie es ist, im 8. Monat schwanger zu sein und auf der Bühne zu stehen. Alles scheint jetzt ziemlich einfach.

Selbst jetzt, wo sich vieles um Covid-19 dreht, kann „Today We’re the Greatest“ immer noch wahr sein. Wir sind lebendig und großartig in diesem Moment, egal wie langweilig, blutig, chaotisch oder schön er auch ist.

Ich wollte mit dir über den Titeltrack „Today We’re the Greatest“ sprechen. Als ich den Albumtitel sah, wollte ich sofort wissen, wovon der Track handelt, das ich dieses Gefühl seit etwa einem Jahr nicht mehr gespürt habe. Das Gefühl, mit anderen zusammen zu sein und sich großartig zu fühlen. Als ich es dann hörte, hat es mich ziemlich emotional gemacht. Ich frage mich, was die Geschichte dahinter ist?

Hannah:Ich liebe es, dass es der Abschlusstrack ist, weil ich das Gefühl habe, dass er den Spirit des Albums auf den Punkt bringt. Wir beginnen mit „Bad Neighbors“ und gehen dann irgendwie auf diese Reise bis zu „Today We’re the Greatest„.

In der Bridge gibt es eine Zeile, die sagt: „Life is gory and boring sometimes“ Und ich finde, dass so viel von dem, worüber ich singe und worum es im Leben geht, einfach der Alltag ist, oft voller normaler, langweiliger Momente, aber auch mit wirklich intensivem Schmerz, einfach im Alltag, voll von allem.

Das alles passiert für jeden jeden Tag, weißt du? Es gibt eine tiefe Freude und dann gibt es einen tiefen Schmerz darin.

Tim hat bei Audible ein Buch eines deutschen Autors (Anm. d. R.: Eckhart Tolle) gehört, das „Die Kraft der Gegenwart“ heißt, das passt ziemlich gut dazu. Für mich geht es jetzt darum zu leben, im Moment präsent zu sein und sich auf das einzulassen, was hier ist, weil die Vergangenheit nicht mehr existiert. Und die Zukunft existiert noch nicht. Wir verbringen viel Zeit damit, über die Vergangenheit nachzudenken oder uns Sorgen über die Zukunft zu machen. Nun, sie existiert nicht. Es ist eigentlich verrückt. Und ich mache das trotzdem die ganze Zeit.

Selbst jetzt, wo sich vieles um Covid-19 dreht, kann „Today We’re the Greatest“ immer noch wahr sein. Wir sind lebendig und großartig in diesem Moment, egal wie langweilig, blutig, chaotisch oder schön er auch ist.

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